Der Schrei

Ich saß am Computer, tief versunken in Arbeit, da hörte ich auf einmal einen schrecklichen Schrei. Ein unangenehmer Laut, der ziemlich lange dauerte, bestimmt drei bis fünf Sekunden, und sofort meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich war wie erstarrt – „horrified“ – und erfasste doch augenblicklich, dass es ein Mensch war, der geschrien hatte. Hoch hatte dieser Schrei geklungen und hoch war mein Puls geklettert. Kein Zweifel: Der schreckliche Schrei kam von einem Kind!

Sollte sich dort unten, in unmittelbarer Nähe zu meiner Wohnung, wo ich mich gerade befand, etwa ein Unglück ereignet haben? Hatte sich ein Kind verletzt oder war es in Gefahr? Musste ich womöglich eingreifen? Während mir derartige Gedanken durch den Kopf schossen, saß ich immer noch wie festgewurzelt auf meinem Schreibtischstuhl.

„Wer noch schreien kann, dem kann es nicht so schlecht gehen“, schob sich nun ein anderer Gedanke in mein Bewusstsein. Das hatte meine zuweilen recht resolute Oma angesichts schreiender Kinder manchmal gesagt – wenn auch sicher nicht ganz so gemeint. Ich schluckte die Beruhigungspille dennoch und wendete mich wieder dem Computerbildschirm zu. Ich arbeite im Home-Office und es gab an diesem Tag viel zu tun. Ich hatte meine Finger gerade wieder auf die Tastatur gelegt, als ich den unheimlichen Schrei ein zweites Mal hörte.

Diesmal stand ich augenblicklich am Fenster und starrte nach draußen. Meine Wohnung befindet sich in der zweiten Etage eines mehrgeschossigen Mietshauses und vom Wohnzimmerfenster aus blicke ich auf einen kleinen Spielplatz, der sich auf der anderen Straßenseite befindet. Zunächst sah ich nichts Auffälliges. Was immer sich dort drüben gerade ereignet hatte oder noch ereignete, es entzog sich meinen Blicken, geschah vielleicht hinter einem der großen Bäume, die meine Sicht auf den Spielplatz zum Teil verdecken.

Dann sah ich das Kind. Es kam den Weg vom Spielplatz her in Richtung Straße gelaufen. Ein Mädchen, vielleicht drei oder vier Jahre alt, schätzte ich. Ihr Mund war weit aufgerissen, ihr Gesicht schien mir schauerlich verzerrt und ihre Augen – meine Wahrnehmung stockte. Irgendetwas stimmte nicht mit diesen Augen. Ich war für einen Moment verwirrt, schaute genauer hin, um mich zu vergewissern. Dann erst begriff ich: Die Augen des Mädchens lachten! Genau in diesem Moment setzte die Kleine ein weiteres Mal zu ihrem hochtönenden Schreien an, als wollte sie mir letzte Gewissheit verschaffen: „Ich war´s! Ich schreie hier fürchterlich laut und habe jede Menge Spaß dabei!“

Ich fiel nun erleichtert auf meinen Schreibtischstuhl zurück. Anstatt ein schlimmes Unglück zu erblicken, war ich Zeuge eines ungehemmten Glücksausbruchs geworden, irgendwie unangemessen, dachte ich, aber zugleich scheinbar völlig unverstellt. Ich versuchte wieder zu arbeiten, doch es wollte nicht so Recht gelingen. Immer wieder schweiften meine Gedanken zum gerade Erlebten ab, ließen sich davon inspirieren, und ehe ich mich versah, befand ich mich in jenem Zustand süßer Melancholie, für den ich schon immer empfänglich war.

Einfach mal schreien? Der Autor war schon als Kind eher von zurückhaltender Natur.

Einfach mal schreien? Der Autor war als Kind eher von zurückhaltender Natur.

Wie war ich eigentlich als Kind gewesen? Habe ich mir auch manchmal die pure Freude aus dem Leib herausgeschrien? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Es schien aber nicht zu mir zu passen. Doch wer weiß, unmöglich ist es nicht. In einem Punkt war ich mir allerdings sicher: Als Erwachsener hatte ich noch nie derartig geschrien, jedoch wohl auch nie so glücklich ausgesehen wie das Mädchen dort unten.

Ihr Schreien hatte mich zunächst fürchterlich erschreckt, ich war zusammengezuckt, kleiner geworden, wie aus Angst vor etwas Fremdem. Doch nun war ich ins Grübeln geraten und sah das kindliche Gebaren allmählich aus einem anderen Blickwinkel. Dieses hemmungslose Schreien war offenbar die schiere Lust am Leben gewesen, das meinte ich in den Augen des Kindes erkannt zu haben. War das vielleicht genau, was mir als Erwachsenem zu meinem Glück fehlte? Lag nicht etwas ausgesprochen Befreiendes darin, das auch mich anging? Sollte ich möglicherwiese von Zeit zu Zeit auch einfach mal schreien? Mal so richtig Dampf ablassen? Und daran wachsen!

In den „Clever & Smart“-Comics, die ich als Kind gerne gelesen habe, trieb der Agent Clever seinen Kollegen Smart regelmäßig zur Weißglut. Manchmal ist Smart dann wie ein Wahnsinniger aus der Stadt herausgelaufen, ist kilometerweit gerannt, nur um irgendwo einen einsamen Berg zu finden, mühsam den Gipfel zu erklimmen und dort dann endlich seine aufgestaute Wut herauszuschreien: „Arrrgghhh!“ Das war lustig und befreiend. Aber auch anstrengend. Geht es nicht einfacher?

Ich dachte weiter über das Thema nach. Als Erwachsener erschien es mir durchaus heikel, einfach mal so draufloszuschreien. Schon lautes Singen in der eigenen Wohnung verkneife ich mir ja meistens. Die Nachbarn! Wer aber richtig schreien will, muss mit Widerstand rechnen. Es drohen böse Blicke, Klopfen an der Wand, Sturmklingeln, Anzeigen bei der Polizei, die Männer in den weißen Kitteln.

Es gibt überall Räume der Stille, kam mir nun in den Sinn, aber keinen Raum zum Schreien. Okay: vielleicht in SM-Studios. Aber das ist ein anderes Thema. Schreiräume für Erwachsene! War das vielleicht sogar eine interessante Marktlücke? Screaming Rooms klang noch besser. Es gehört durchaus zu meinen Angewohnheiten, gelegentlich über innovative Geschäftsmodelle nachzusinnen, die mir neue berufliche Horizonte eröffnen könnten. Doch meine diesbezüglichen Ideen sind in der Regel nicht zeitgemäß. Ich bilde mir ein, sie seien ihrer Zeit voraus. Zu einer ähnlichen Einschätzung kam ich bald auch in Bezug auf die Screaming Rooms. Es gibt keinen Raum zum Schreien. Auch wenn es so sein sollte. Dafür ist die Gesellschaft noch nicht bereit, sagte ich zu mir.

Kurz darauf saß ich wieder am Computer, tief versunken in Arbeit. Ich schlüpfte in meine Rolle des verantwortungsvollen Erwachsenen, der seine verdammte Pflicht tat. Erstaunlich geschmeidig war mir das gelungen. Ich hatte das sichere Gefühl, nun bis zum Abendessen in einem Rutsch durchackern zu können. Ich blendete alles aus, hörte nur noch das Klackern der Tastatur. Nichts konnte mich mehr ablenken. Ganz sicher nicht das Geschrei irgendwelcher Kinder! Ich musste ja vorankommen. Und es ging nun voran – ich war im Flow. In meinem eigenen? Egal, in irgendeinem Flow.

© 2016 Roland Grimm

 

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